30 Mutter­spra­che

ein beitrag von

  • Karsten Schmidt

Wenige Begriffe wirken so selbstverständlich wie der Begriff Muttersprache. Jeder Mensch hat eine Muttersprache, das scheint sich von selbst zu erklären. Sie ist so etwas wie unsere sprachliche Heimat, die Sprache, die wir spielerisch gelernt haben, mit Geborgenheit und engen Beziehungen verbinden, mit der eigenen Mutter, der Familie. Warum, so mag sich die eine oder der andere beim Überfliegen des Inventars der Migrationsbegriffe gefragt haben, taucht dieser Begriff hier auf? Welchen Bezug hat er zu Debatten über Migration? Und was könnte daran kontrovers sein? Tatsächlich ist der Begriff mit allerhand Vorstellungen behaftet, die – nicht nur, aber auch und insbesondere – im migrationsgesellschaftlichen Kontext problematisch sind. Das hängt mit den Sprachvorstellungen zusammen, die das Selbstbild der modernen Nationalstaaten prägen. Die darin verfestigten Normalitätsannahmen über Sprache(n), die Sprachkompetenzen von Menschen und die Sprachverhältnisse einer Gesellschaft bilden auch die Matrix für einen diskriminierenden Gebrauch des Muttersprachbegriffs in der Migrationsgesellschaft.

‚Mut­ter­spra­che und Vater­land‘ (Problem­au­friss)

Der Begriff Muttersprache wird meist im übertragenen Sinne gebraucht. Das Bestimmungswort Mutter steht für die Familie oder für primäre Bezugspersonen, an die der Erstspracherwerb gebunden ist. Die Äußerung „Meine Muttersprache ist X“ kann dann übersetzt werden in „X ist meine Erst- und Familiensprache“. Zugleich verdichtet sich in dieser Zusammensetzung ein Metaphernkomplex, der an die wörtliche Lesart ‚Sprache der Mutter‘ anknüpft und Vorstellungen rund um ‚Verwandtschaft‘ miteinander vernetzt.

Folgt man diesem metaphorischen Faden, so gelangt man allmählich von (i) biologisierenden über (ii) ethnisierende hin zu (iii) nationalisierenden Vorstellungen. (i) Die Muttersprache hat man gleichsam ‚mit der Muttermilch aufgesogen‘, sie wurde einem ‚vererbt‘. (ii) Sie ist die Sprache des ‚Volkes‘, von dem man ‚abstammt‘ (wie auch Sprachen sich in ‚Stammbäumen‘ anordnen lassen). (iii) In der binomischen Formel ‚Muttersprache und Vaterland‘ scheint schließlich das Bild einer quasi-natürlichen Einheit von Sprache und Nation auf. Ein Land, seine Bevölkerung und seine Sprache bilden darin eine große Familie. Wer in diese Familie hineingeboren wird, bekommt deren Sprache wie ein Geburtsrecht in die Wiege gelegt. Geboren ist der Native Speaker. Wer ein Native Speaker ist, der oder die besitzt eine Kompetenz in seiner oder ihrer Sprache, die andere Menschen, die diese Sprache später lernen, kaum, ja eigentlich nie erreichen können. Irgendwie ist da doch dieser leichte Akzent zu hören, findet sich der eine oder andere grammatische Fehler, taucht eine seltsame Formulierung auf.

Was für Vorstellungen über die soziale Welt im Allgemeinen gilt, gilt auch für Sprachvorstellungen: Sie können mittelbar auf die soziale Welt selbst einwirken und Wirklichkeit schaffen – dadurch nämlich, dass die sozialen Akteure ihr Handeln an ihnen ausrichten. Bei Stellenausschreibungen für Sprachlehrkräfte ist es Usus, ein ‚Muttersprachniveau‘ als Einstellungsvoraussetzung anzugeben. Entscheidend ist offenbar nicht die sprachpädagogische Qualifizierung, sondern ein spezifisches soziales Profil, bei dem die als angeboren imaginierte Sprachkompetenz mit einer bestimmten (National-)Sprache und der ‚Ethnie‘1 eines Menschen verschmolzen ist. Ein solchen Vorstellungen zugrunde liegendes kollektives Unbewusstes kann als diskriminierende Praxis wirkmächtig werden:

On Thursday, July 12, 1990, the Singapore newspaper The Straits Times listed the following advertisement: ‚Established private school urgently requires native speaking expatriate English teachers for foreign students.‘ By Saturday, July 14, the advertisement had been changed as such: ‚Established private school urgently requires native speaking Caucasian English teachers for foreign students.‘ […] It does not require great powers of speculation to imagine the events and discussions at The Straits Times on that Friday the Thirteenth, an inauspicious day for the Anglophone applicants whose appearance did not conform to a certain stereotype. (Bonfiglio 2010: 1) 2

In der Stellenausschreibung wird explizit, was meist implizit bleibt: die ethnisierende oder rassialisierende Dimension des Muttersprachbegriffs. Sie macht das Erreichen von ‚guten‘ Sprachkompetenzen für Menschen, die als „Migrationsandere“ (Paul Mecheril) positioniert sind, gleichermaßen zu einem – sich in den Integrationsdiskursen manifestierenden – Imperativ und zu einem fernen, unerreichbaren Ideal. Einerseits „entscheiden die Fähigkeit zur Nicht-Abweichung, die Beherrschung der Norm, die Akzentfreiheit symbolisch über die Zugehörigkeit“ (Gümüşay 2020: 35). Andererseits scheint diese Zugehörigkeit etwas zu sein, das nicht zugestanden wird. Das kommt nicht zuletzt in jenen – zweifellos mit besten Absichten vorgebrachten – zweischneidigen Komplimenten vom Typ „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ zum Ausdruck. Dieser „native-speakerism“ (Holliday 2006) erzeugt einen unablässigen Rechtfertigungs- und Beweiszwang:

Wenn wir eine Sprache – die Sprache der Mehrheitsgesellschaft – erst in der Schule erlernen, wenn unsere Muttersprache den anderen nicht vertraut ist, so betreten wir den Raum als Fremde. Die Sprache ist die der anderen, nicht unsere. Wir bemühen uns, sie zu erlernen, sie zu beherrschen, in ihr zu kommunizieren. Irgendwann perfektionieren wir sie – irgendwann fühlen wir, sie ist unsere Sprache. Wir beherrschen keine andere so gut wie das Deutsche, und doch müssen wir unser Zuhausesein in dieser Sprache verteidigen. (Gümüşay 2020: 34)

Der Muttersprachbegriff und der ihm eingeprägte native-speakerism hängen mit einem Vorstellungskomplex zusammen, der für nationalstaatliche Verhältnisse charakteristisch ist: die Homogenisierung von Sprache(n), Sprachkompetenzen und Sprachverhältnissen. Dabei wird offenbar die Vorstellung von den einsprachigen gesellschaftlichen Verhältnissen als Selbstbild des Nationalstaats übertragen auf die Sprachkompetenzen des Individuums, dessen sprachliche Ressourcen (Wortschatz, Grammatik, Sprechweisen) mit den Ressourcen der ‚Nationalsprache‘ gleichgesetzt werden. Letztere werden ihrerseits mit den – relativ einheitlichen, in Wörterbüchern oder Grammatiken kodifizierten – Standardformen dieser Sprache identifiziert.

Sprachvorstellungen

Abb. 1: Sprache und Nationalstaat: ein Komplex aus homogenisierenden Sprachvorstellungen

Dieser Komplex aus homogenisierenden Sprachvorstellungen kann als Matrix für allerhand Normalitätsannahmen oder normative Forderungen fungieren, in denen sich seine Wirkmächtigkeit zeigt. Zu den migrationsgesellschaftlich folgenreichsten Effekten solcher Normalitätsannahmen gehören die Ausblendung oder Stigmatisierung von Mehrsprachigkeit.

Zunächst einmal wird die historische wie gegenwärtige Existenz der Sprachenvielfalt verschleiert, also die einerseits immer schon vorhandene und andererseits für ein Einwanderungsland typische Koexistenz mehrerer Sprachen. Dazu gehören – mit Blick auf Deutschland – sowohl autochthone (‚alteingesessene‘) Sprachen wie Saterfriesisch oder Sorbisch als auch allochthone (durch Migration hinzugekommene) Sprachen wie Arabisch oder Russisch. Tendenziell unsichtbar bleibt damit auch, dass der Wechsel zwischen diesen Sprachen und dem (Hoch-)Deutschen für viele Menschen zum Alltag gehört, also Teil ihrer Normalität ist. Kommt diese lebensweltliche Mehrsprachigkeit doch in den Blick, etwa unter schulpolitischen Vorzeichen, so wird sie nicht selten als ‚doppelte Halbsprachigkeit‘ stigmatisiert.

Die Ausblendung und Stigmatisierung von Mehrsprachigkeit in diesem Sinne kann offensichtlich auch durch ideologische Interessen motiviert sein, die sich Sprachfragen zunutze machen, um symbolisch wirksam einen Diskurs über die Dichotomie zwischen dem Eigenen und dem Fremden heraufzubeschwören, um auf diesem Feld migrationspolitische Stellvertreterkriege zu führen. Dieser Diskurs der Ausgrenzung – von Leitkulturdebatten bis zu offenem Rassismus – zielt in den vergangenen Jahren insbesondere auf Muslim:innen und ‚den‘ Islam ab.

Woher aber kommen solche homogenisierenden Vorstellungen? Und woher bekommen sie diesen Sog der Selbstverständlichkeit? Ein Blick auf die Geschichte und Struktur der nationalstaatlichen Sprachverhältnisse weist den Weg für Erklärungen.

Zur Geschichte und Struk­tur der nati­o­nal­staat­li­chen Sprach­ver­hält­nisse

Die Entwicklungen der sprachlichen Verhältnisse in Westeuropa, die zur Entstehung der ‚Nationalsprachen‘ führten, sind durch und durch widersprüchlich.3 Einerseits war der zugrunde liegende schriftsprachliche Ausbau der ‚Volkssprachen‘ nach dem Modell des Lateinischen ein progressives Moment. Jahrhundertelang waren das Lateinische und das an diese Schriftkultur gekoppelte Wissen nur den gesellschaftlichen Eliten zugänglich. Mit der im Spätmittelalter einsetzenden Verschriftlichung von Sprachen wie Französisch oder Deutsch, die dadurch erst ihre gegenwärtige Gestalt als ausgebaute Schriftsprachen erhielten, änderten sich die sprachlichen Verhältnisse grundlegend. Ausgebaute Schriftsprachen sind Sprachen, die nicht auf spezifische Kontexte beschränkt sind (wie z.B. Fachsprachen), sondern für viele verschiedene soziale Zwecke genutzt werden können. Mit ihnen können – potenziell – alle Praxisformen oder Aufgaben in einer ausdifferenzierten Gesellschaft sprachlich bewältigt werden. In den bürgerlichen Gesellschaften wurde nun der Zugang zur Schriftsprache zu einer Frage der persönlichen Entfaltung und der politischen Teilhabe der Staatsbürger:innen: Sie wurde die Sprache der Allgemeinbildung und der staatlichen Geschäftsführung. Sie wurde, anders gesagt, die sprachliche Infrastruktur demokratischer Prozesse.

Andererseits wurden und werden Sprachen als Embleme der nationalen Einheit funktionalisiert, oder eher noch: fetischisiert. Das ist die regressive Kehrseite des ‚Sprachprojekts‘ der Moderne. Im 19. Jahrhundert wurde dieser Diskurs offen nationalistisch artikuliert. Nun geriet auch das naturalisierte, mit Verwandtschaft und Vererbung verknüpfte Konzept der Muttersprache zur sprachpädagogischen Norm, die in völkischen Auffassungen vom Muttersprachunterricht gipfelte (vgl. Gogolin 2008: 41–103). Bis in die Gegenwart werden davon Normalitätsvorstellungen rund um Ein- vs. Zwei- und Mehrsprachigkeit geprägt (vgl. Gogolin/Neumann 2009). Deren Wirkmächtigkeit wird nirgendwo so deutlich wie in migrationspolitischen Diskursen. Zugleich sind es gerade Migrationsprozesse, die diese Vorstellungen in ihrem Normalitätsstatus destabilisieren und ins Wanken bringen.

Beide Momente der Entstehung von ‚Nationalsprachen‘, das progressive und das regressive, hängen auf systematische Weise miteinander zusammen. Das lässt sich verdeutlichen, indem man den folgenden zwei Fragen nachgeht: (i) Wie ist das, was wir eine Sprache oder Sprachform nennen (hier: das Hochdeutsche), in den skizzierten Verhältnissen verteilt und was ist das Charakteristische daran? (ii) Wie bewegen sich die Menschen in diesen Verhältnissen, welchen sozialen und sprachlichen Praktiken sind sie gewohnheitsmäßig verhaftet?

(i) Sprache ist immer sozial verortet. Sprachen variieren grundsätzlich in Abhängigkeit von den Situationstypen oder Kontexten, in denen sie gebraucht werden.4 Stark vereinfacht lassen sich mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse die folgenden drei Gebrauchskontexte und Sprachformen unterscheiden: öffentlich-formelle Kontexte (Sprache der staatlichen Geschäftsführung, der förmlichen Öffentlichkeit und der Bildung), öffentlich-informelle Kontexte (Sprache der alltäglichen Interaktion im öffentlichen Raum; Verkehrssprache) und privat-informelle Kontexte (Sprache des alltäglichen Umgangs mit vertrauten Personen; Familiensprache).

Der weltweit am häufigsten vorkommende Typus von Sprachverhältnissen zeichnet sich durch eine „arbeitsteilige Mehrsprachigkeit“ aus (Maas 2008: 52). Dort sind verschiedene Einzelsprachen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche festgelegt. Ein Beispiel dafür sind die Sprachverhältnisse in Marokko, wo in der Familie vielleicht Berberisch, auf der Straße marokkanisches Arabisch und in den Institutionen Hocharabisch oder Französisch verwendet wird.

Demgegenüber sind die deutschen Verhältnisse und vergleichbare nationalstaatliche Sprachverhältnisse eben dadurch bestimmt, dass die verschiedenen sozialen Aufgaben und Situationen mit einer Sprache bewältigt werden können bzw. müssen: Die staatliche Geschäftssprache, die Verkehrssprache und die Familiensprache sind nicht verschiedene Einzelsprachen, sondern einander ähnliche Varietäten der gleichen Sprachform.5 In Deutschland ist das die Rolle des schriftsprachlich ausgebauten Hochdeutschen, dessen historisches ‚Substrat‘ die mittel- und süddeutschen Regionalsprachen bilden (daher Hochdeutsch). Diese Sprachform ist es schließlich, die – unter Gleichsetzung mit den Varietäten in den staatlichen Institutionen – als ‚Standardsprache‘ und – unter Gleichsetzung mit den politischen Grenzen – als ‚Nationalsprache‘ betrachtet wird.

(ii) Innerhalb der nationalstaatlichen Sprachverhältnisse bildet sich nun ein für diese Verhältnisse typisches Sprachverhalten heraus, ein bestimmter sprachlicher Habitus. Diesen kann man als lebensweltlich einsprachigen Habitus oder „monolingualen Habitus“ bezeichnen (Gogolin 2008). Der Begriff des (sprachlichen) Habitus wurde von dem Soziologen Pierre Bourdieu geprägt. Er umfasst die im Laufe der Sozialisation verinnerlichten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata eines Individuums, die dessen Verhalten strukturieren.

Folgt man dieser Analyse, so gehören die homogenisierenden Sprachvorstellungen zu jenem „praktischen Begreifen“ im Sinne Bourdieus, dessen Grundlage nicht ein „erkennendes Bewußtsein“ ist, „sondern der praktische, von der Welt, in der er wohnt, bewohnte Gewohnheits-Sinn des Habitus“ (Bourdieu 2001: 182). Zwar wohnt der monolinguale Habitus nicht in einer tatsächlich monolingualen Welt. Aber die sprachlichen Praktiken, denen er in den nationalstaatlichen Sprachverhältnissen habituell verhaftet ist, können leicht den Glauben erzeugen, Einsprachigkeit und sprachliche Homogenität seien der Normalfall oder sollten es zumindest sein. Wenn die Sprachpraktiken im Familien- und Bekanntenkreis ebenso deutschsprachig artikuliert sind wie jene in der informellen und formellen Öffentlichkeit, dann lassen sich die Übergänge zwischen Familien-, Verkehrs- und Geschäftssprache als sprachstrukturelles Kontinuum erfahren. Das Selbstbild der Nation bildet sich als Selbstverständlichkeit im Habitus ab. Der folgende Abschnitt geht dem weiter auf den Grund.

Vom einspra­chi­gen Habi­tus zur einheit­li­chen Mutter- und Nati­o­nal­spra­che

Beim lebensweltlich einsprachigen Habitus überlagern sich zwei Vertrautheitsdimensionen: einerseits eine affektiv besetzte Vertrautheit, die mit der Erst- und Familiensprache verbunden ist und als Teil der personalen Identität erlebt wird; andererseits eine praktische Vertrautheit, die mit einer in der individuellen Praxis vorwiegend genutzten Sprachform einhergeht. Beim lebensweltlich mehrsprachigen Habitus hingegen können sich diese beiden Ebenen unterscheiden. Die nicht-deutsche Erst- und Familiensprache mag die Sprache sein, in der man sich emotional sicher fühlt und die wesentlich zur personalen Identität gehört (und auch als eigene Muttersprache betrachtet wird), während das Deutsche die habituell dominante Sprache ist, in der man im Alltag die meisten sozialen Aufgaben bewältigt und sich praktisch auch sicher(er) fühlt. Die folgende Grafik kann eine Idee davon vermitteln: Sie bildet den Sprachgebrauch eines 29-jährigen Softwareentwicklers an einem durchschnittlichen Arbeitstag ab und zeigt die quantitative Verteilung der verschiedenen Sprachen hinsichtlich der Alltagspraktiken, in denen sie Anwendung finden.6

Sprachliches Repertoire

Abb. 2: Habituelle Sprachpraktiken im Arbeitsalltag eines 29-jährigen Softwareentwicklers (Angaben in Minuten pro Tag)

Beim lebensweltlich einsprachigen Habitus führt nun die Überlagerung emotionaler und praktischer Sicherheit in einer Sprachform in (fast) allen Situationstypen, diese feste Assoziation der zwei Vertrautheitsdimensionen, zu einer spezifischen Ausweitung des Muttersprachbegriffs. Zum einen umfasst dieser die mit der Familiensprache verbundene, affektiv besetzte und damit besonders stark körper- und identitätsgebundene Bedeutung. Das mag die Grundlage dafür sein, dass Sprache als leiblich verankerter Besitz oder biologisches Erbe imaginiert wird. Zum anderen schließt der Begriff auch die in den staatlichen Institutionen und der förmlichen Öffentlichkeit üblichen Sprachformen ein. Dort dominieren schriftsprachliche Praktiken, die aufgrund der materiellen und kommunikativen Bedingungen tatsächlich eine relativ homogene Sprachform ermöglichen oder voraussetzen. Typisch ist dort die Kommunikation mit einem ‚generalisierten Gegenüber‘, mit dem man keinen für die Interpretation von Äußerungen abrufbaren Erfahrungshintergrund teilt (Lesepublikum eines Artikels, Auditorium eines Vortrags, Zuschauer:innen einer Fernsehsendung etc.). Diese Kommunikation erfordert, dass die Äußerungen (Texte) möglichst voraussetzungsfrei aus der sprachlichen Form selbst heraus verstehbar sind (vgl. Maas 2010). Zugleich sind das die gesellschaftlichen Orte, an denen jene Diskurse produziert werden, die Sprache mit Attributen nationaler Identität versehen, in denen Sprache als Besitz oder Erbe einer Nation imaginiert wird. So ist etwa der Deutschunterricht nicht nur Sprachunterricht, sondern auch mit der Vermittlung eines Kanons nationaler Literatur beauftragt.

Erfahrungswelt

Abb. 3: Erfahrungswelt des lebensweltlich einsprachigen (monolingualen) Habitus im Kontrast zum lebensweltlich mehrsprachigen Habitus

Die feste Kopplung von personaler und nationaler Identität an der Schnittstelle Sprache bringt jene Normalitätsannahme von der homogenen Mutter- und Nationalsprache (‚Muttersprache und Vaterland‘) hervor. Sie ist verankert in der Erfahrungswelt eines spezifischen und zugleich verallgemeinerten sprachlichen Habitus.

Die schriftsprachlichen Formen haben aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ein hohes Prestige. Insbesondere über das Bildungssystem und die im Laufe der schulischen Sprachsozialisation zur zweiten Natur gewordenen Sprachauffassungen werden sie zum Maßstab der Sprachbewertung und prägen das Bild der einheitlichen (und reinen, korrekten, perfekten …) Einzelsprache, das tendenziell auf sämtliche Sprachformen ausgedehnt wird. Sprachen und Varietäten, die nicht geschrieben werden, gelten dann nicht als Sprachen (vgl. Maas 2008: 59).

So grundieren diese Prozesse und die Verallgemeinerung des einsprachigen Habitus auch die Naturalisierung der Unterscheidung in Sprachen mit Prestige und solchen ohne. Wird eine Sprache geschrieben und in formellen Kontexten gebraucht, ist sie in Form von Fremdsprachenunterricht institutionalisiert und gilt als wichtig für die berufliche Laufbahn? Oder ist sie auf informelle und mündliche Kontexte beschränkt, gilt daher als Sprache ohne Grammatik (vgl. Peterson 2015: 6) oder wird gar auf Schulhöfen verboten und aus solchen und anderen Gründen lieber verschwiegen (vgl. Brizić 2007; Thoma 2018)? So werden gute und schlechte Mehrsprachigkeit, wertvolle und wertlose Muttersprachen erzeugt, wie Kübra Gümüşay eindrücklich darlegt:

Als ich vierzehn war, sprachen wir in der Schule über unsere Berufswünsche und schrieben Bewerbungen für ein Praktikum. Für mich stand damals fest: Ich will Kinderärztin werden – ich bewerbe mich bei einer Kinderarztpraxis. Also machte ich mich an die Arbeit und rekapitulierte mein bisheriges Leben. Meine Familie, die Grundschule, das Gymnasium. Ich listete die kleinen Erfolge bei Kunstwettbewerben und Sportwettkämpfen auf. Dann stieß ich in der Anleitung zum Lebenslauf, die unsere Lehrerin verteilt hatte, auf den Punkt ‚Sprachkenntnisse‘. Deutsch, Englisch, Latein, tippte ich in den Computer. Und Türkisch? Sollte ich meine Muttersprache auflisten?

Nein. Irgendwie zählt Türkisch nicht, dachte ich intuitiv. Ich erinnerte mich daran, was eine Lehrerin in der Grundschule gesagt hatte: ‚Türkisch wird hier nicht gesprochen.‘ Türkisch, das war eine Sprache von Einwanderern. Türkisch lernt man nicht, Türkisch verlernt man. (Gümüşay 2020: 36f.)

Ein Norma­li­täts­maß­stab für den Spra­ch­er­werb

Besonders problematisch wird der homogenisierte und homogenisierende Mutter- und Nationalsprachbegriff, wenn er pädagogische Gewissheiten und Handlungshorizonte prägt, wie sie sich in vielen gängigen ‚Mythen‘ rund um Mehrsprachigkeit und Spracherwerb manifestieren (vgl. Kersten et al. 2011). Der folgende Ausschnitt eines Gesprächs, das mit Lehrkräften an einer Grundschule in einer österreichischen Großstadt geführt wurde (Springsits 2015: 99), illustriert die praxisleitende Wirksamkeit solch verbreiteter Vorstellungen. In diesem Beispiel wird insbesondere die Vorstellung, dass ein Kind zuerst seine Muttersprache richtig lernen müsse, bevor es eine weitere Sprache lernt, variiert.

P1 [Begleitlehrerin]: […] Weil, wenn man sieht, bei einem Kind geht auf Deutsch nichts weiter, dann fragt man mal nach: ‚Wie ist das denn eigentlich in der Muttersprache?‘ Das ist oft sehr – ja – erklärend.
I [Interviewerin]: Haben Sie eine Hypothese, wie die Kinder dann zu Hause kommunizieren?
P2 [Lehrerin für ‚Muttersprachlichen Unterricht‘]: Eine Mischung, ich sage immer, Mischmasch reden die zu Hause. Eine Mischung von – ich rede jetzt von der BKS-Sprache [Bosnisch-Kroatisch-Serbisch] – BKS und Deutsch. Eltern reden so und Kinder leider auch so. Und das ist ganz schwierig dann, so was wirklich richtig zu kriegen jetzt, entweder Deutsch oder die Muttersprache. Das ist jetzt … Das ist wirklich eine Mischung und das ist schwierig.
I: Das heißt, Sie haben den Eindruck, dass es dann schwieriger geht für die Kinder, dass sie mehr Schwierigkeiten haben?
P2: Natürlich, ja.
P1: Stimmt, ja.
D [Direktorin]: Kinder, die ihre eigene Muttersprache sehr gut können, die sie kennen und können, haben beim Erlernen einer Zweitsprache weniger Schwierigkeiten und weniger Probleme als umgekehrt.
P2: Genau. Die müssen eine Basis haben.
D: Das ist ganz entscheidend.
P1: Sie müssen eine Sprache gut können …
D: Ja.
P2: Und das ist die Basis.
P1: Und abgesichert haben, wenn sie in die Schule kommen eigentlich. Ja?
D: Ja.
P1: Das ist sehr wichtig.
P2: Und das kann nur die Muttersprache sein.
P1: Mhm.
P2: Also, viele Eltern oder viele Menschen denken, das kann auch die zweite Sprache sein. Nein, das kann nur die Muttersprache sein.

Der lebensweltlich einsprachige Habitus hat gelernt, seine Erst- und Familiensprache im Laufe der schulischen Sozialisation zur Schriftsprache auszubauen, die eben das Modell dafür abgibt, dass man – wie es die Direktorin ausdrückt – ‚seine eigene Muttersprache sehr gut kennt und kann‘. Dieser Typus von Sprachbiografie wird nun offensichtlich als Normalitätsmaßstab an die sprachlichen Kompetenzen von Kindern aus Einwandererfamilien angelegt.

Zunächst einmal fällt im Gespräch die Verschmelzung von Sprache und ethnischer Herkunft bzw. Nationalität auf: Als Mitglied einer bestimmten Ethnie oder Nation besitzt jeder Mensch eine bestimmte Muttersprache. Diese sollte er, wenn er eine weitere Sprache, wie hier Deutsch, lernen will, bereits möglichst gut können. Denn ‚nur das kann die Basis sein‘ für den Erwerb einer weiteren Sprache – nach der Logik der schulischen Sprachlernreihenfolge: erst die Muttersprache, dann die erste Fremdsprache, dann die zweite Fremdsprache … Mehrsprachigkeit wird als mehrfache Einsprachigkeit aufgefasst.

Da nun implizit die Muttersprachkompetenz mit der Beherrschung der schriftsprachlichen Varietäten gleichgesetzt wird, können die Sprachkenntnisse der Kinder – ‚Wenn man mal nachfragt: Wie ist das denn eigentlich in der Muttersprache?‘ – nur als defizitär erscheinen. Die Frage, warum Kinder aus Einwandererfamilien in Deutschland oder Österreich ihre Erst- und Familiensprache in der ausgebauten Form einer Schriftsprache beherrschen sollten, wenn dies nicht Teil der familiären habituellen Sprachpraktiken ist und es weder die Gelegenheit noch die Notwendigkeit gibt, solche Ressourcen aufzubauen, stellt sich angesichts der gelebten und geäußerten Gewissheiten nicht mehr. Das Problem muss woanders gesucht werden und kann nur im ‚Mischmasch‘, der zuhause gesprochen wird, begründet liegen. Undenkbar erscheint die Tatsache, dass sprachliche Formen immer in sozialer Praxis verortet sind und in Abhängigkeit von den mit ihnen zu bewältigenden Aufgaben gelernt und eingesetzt werden. Aus dieser Perspektive ist es eigentlich irrelevant, zu welchen Sprachen die jeweiligen sprachlichen Formen gehören. Undenkbar erscheint aber auch die bildungspolitische Prämisse, dass es – zugespitzt formuliert – gar keine Rolle spielen dürfte, welche Sprachen in den Familien gebraucht werden, solange die Schule den Zugang zum schrift- und bildungssprachlichen Deutsch sicherstellt. Das kann ja auch für Kinder aus einsprachig deutschen Familien je nach sozialer Herkunft mehr oder weniger stark eine ‚Fremdsprache‘ sein.

Gewalt und Gestalt­bar­keit der Sprach­ver­hält­nisse (Fazit)

So ‚unschuldig‘ der Begriff der Muttersprache zunächst daherkommen mag, so folgenreich können die mit ihm verknüpften Sprachvorstellungen sein. Für die, die davon betroffen sind, bedeuten sie symbolische Gewalt, Diskriminierung, (Selbst-)Abwertung, Ausgrenzung. Die Analyse der historischen und sozialen Bedingungen dieser Vorstellungen kann den Weg ebnen zu einem kritischen Verständnis der Sprachverhältnisse, die diesem Begriff seine Bedeutungen einprägen. Was die Analyse zutage fördert, erscheint zunächst paradox. Gerade das progressive Moment der nationalstaatlichen Sprachverhältnisse, nämlich die Verbreitung einer ausgebauten Schriftsprache, zu der alle Staatsbürger:innen Zugang haben (sollen), ist das, was seinen regressiven Widerpart ins Leben ruft: das Bild einer vermeintlich natürlichen Einheit von Nation, (Standard-)Sprache und Sprachkompetenz. Die schulische Sprachsozialisation und der habituelle Umgang mit und in den nationalstaatlichen Sprachverhältnissen lässt diese als selbstverständlich erscheinen. Das macht deren Geschichtlichkeit und damit auch deren demokratische Gestaltbarkeit unsichtbar. Also das, was eigentlich zum Kern der Sprachverhältnisse der Moderne gehört, der gerade für die postmigrantische Gesellschaft stets wieder freizulegen ist.7

Lite­ra­tur

Zum Weiterlesen

Bonfiglio, Paul Thomas (2010): Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker, New York: De Gruyter.

Dirim, İnci/Mecheril, Paul u.a. (2018): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Eine differenz- und diskriminierungstheoretische Einführung, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Knappik, Magdalena (2016): „Disinventing ‚Muttersprache‘. Zur Dekonstruktion der Verknüpfung von Sprache, Nation und ‚Perfektion‘“, in: Aysun Doğmuş/Yasemin Karakaşoğlu/Paul Mecheril (Hg.), Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft, Wiesbaden: Springer, S. 221–240.

Maas, Utz (2008): Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension (Schriften des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Bd. 15), Göttingen: V&R unipress mit Universitätsverlag Osnabrück.

Peterson, John (2015): Sprache und Migration, Heidelberg: Winter

Zitierte Literatur

Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, übers. v. Achim Russer, unter Mitwirkung von Hélène Albagnac und Bernd Schwibs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Brizić, Katharina (2007): Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration, Münster: Waxmann.

Gogolin, Ingrid (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, 2., unveränd. Aufl., Münster: Waxmann.

Gogolin, Ingrid/Neumann, Ursula (Hg.) (2009): Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein, München: Hanser Berlin.

Holliday, Adrian (2006): „Native-speakerism“, in: English Learning Teaching Journal 60 (4), S. 385–387.

Kersten, Anja/Geist, Barbara/Voet Cornelly, Barbara/Schulz, Petra (2011): „Mehrsprachigkeit: Mythen und was dahinter steckt“, in: KiTa NRW 20 (4), S. 96–98.

Maas, Utz (2010): „Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse geschriebener und gesprochener Sprache“, in: Grazer Linguistische Studien 73, S. 21–150.

Maas, Utz (2014): Was ist deutsch? Die Entwicklungen der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland, unter Mitarbeit v. Solvejg Schulz, 2., überarb. u. erw. Aufl., München: Wilhelm Fink.

Springsits, Birgit (2015): „‚Nein, das kann nur die Muttersprache sein.‘ Spracherwerbsmythen und Linguizismus“, in: Nadja Thoma/Magdalena Knappik (Hg.), Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften. Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis, Bielefeld: transcript, S. 89–108.

Thoma, Nadja (2018): Sprachbiographien in der Migrationsgesellschaft. Eine rekonstruktive Studie zu Bildungsverläufen von Germanistikstudent*innen, Bielefeld: transcript.

Fußno­ten

  1. 1

    Vgl. dazu den Inventar-Beitrag „Ethnizität“.

  2. 2

    „Am Donnerstag, den 12. Juli 1990, erschien in der Singapurer Zeitung The Straits Times folgende Anzeige: ‚Etablierte Privatschule sucht dringend muttersprachliche Englischlehrer für ausländische Schüler‘. Am Samstag, den 14. Juli, wurde die Anzeige wie folgt geändert: ‚Etablierte Privatschule sucht dringend muttersprachliche kaukasische Englischlehrer für ausländische Schüler‘. [...] Es bedarf keiner großen Spekulationen, um sich die Ereignisse und Diskussionen in der Straits Times an jenem Freitag, dem Dreizehnten, vorzustellen, einem unglücklichen Tag für anglophone Bewerber, deren Aussehen nicht einem bestimmten Stereotyp entsprach.“ [Übersetzung K.S.]

  3. 3

    Ausführlich dargestellt wird dies von dem Sprachwissenschaftler Utz Maas (2008: I.3); mit Fokus auf die Entwicklungen der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland vgl. auch Maas (2014).

  4. 4

    Diese Art von Sprachvariation oder Verteilung von Sprachformen nennt man in der Sprachwissenschaft auch Registervariation. Ich folge hier dem Registerkonzept von Utz Maas (v.a. 2008: 41–48).

  5. 5

    Das ‚Müssen‘ ist auf die politischen Implikationen dieser Sprachverhältnisse bezogen: In bürgerlichen Gesellschaften ist ja der Zugang zur gemeinsamen Geschäftssprache eine Voraussetzung für die umfassende Partizipation der Staatsbürger:innen. Von diesem Sachverhalt ist der „Umgang mit der lebensweltlichen Heterogenität […] strikt zu trennen“ (Maas 2008: 537). Das heißt auch, dass aus ihm nicht der Imperativ abgeleitet werden kann, dass in Einwandererfamilien (mehr) Deutsch gesprochen werden sollte.

  6. 6

    Für die freundliche Genehmigung zur Nutzung der von ihm erhobenen Daten danke ich herzlich Emir Faruk Kayahan.

  7. 7

    Vgl. dazu den Inventar-Beitrag „Postmigrantisch“.

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