43 Zweite Gene­ra­tion

ein beitrag von

  • Stephanie Zloch

Der bis heute aktuelle Begriff der ‚zweiten Generation‘ von Migrantinnen und Migranten entspringt weder einer rein pragmatischen Zählweise noch einer allseits anerkannten gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Die mit der ‚zweiten Generation‘ verbundenen Vorstellungen reichen vielmehr von der Annahme einer fortgeschrittenen ‚Integration‘ über Problemszenarien von Devianz und Prekariat bis hin zur Umdeutung des Begriffs für eine Selbstbehauptung von Migrantinnen und Migranten. Vor allem seit Ende des 20. Jahrhunderts entwickelten sich Alternativbegriffe, von denen allerdings keiner eine Alleinstellung in der Debatte um generationelle Dynamiken in der Migrationsgesellschaft erlangt hat. In diesem Beitrag wird im historischen Überblick die Verwendung unterschiedlicher Generationskonzepte identifiziert und diskutiert – von der frühesten Erwähnung einer second generation in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs, die europäische Arbeitskräftemigration der 1950er bis 1980er Jahre, bis hin zum heutigen pluralen Migrations- und Fluchtgeschehen.

Gesellschaftliche Beschreibungs- und Ordnungsversuche, die das Konzept Generation in Anspruch nehmen, wie ‚Millennials‘, ‚68er‘ oder ‚45er‘, erfreuen sich anhaltend hoher Beliebtheit. In Wirtschaft und Technik weist die Bezeichnung ‚zweite‘ oder ‚n-te Generation‘ ein Produkt als optimiert aus. Die geläufige Rede von einer ‚zweiten‘ oder auch ‚dritten Generation‘ von Migrantinnen und Migranten fügt sich allerdings nicht nahtlos in diese Reihung ein. Damit klingt bereits an, dass das Verständnis von Generationen mehrschichtig und zum Teil auch widersprüchlich sein kann. Dieser Beitrag erörtert daher, welche Implikationen, Bedeutungsverschiebungen und Effekte mit der konkreten Begriffsverwendung der ‚zweiten Generation‘ seit Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden waren, wobei der Akzent auf der Migrationssituation in Deutschland liegt.

Gene­ra­ti­ons­kon­zepte vor 1945

Wissenschaftliche Bemühungen, Generationen konzeptuell zu fassen, sind zahlreich und haben eine lange Geschichte (Parnes/Vedder/Willer 2008). Im sozialwissenschaftlichen Feld, das für die Deutung von Migrationsprozessen besondere Bedeutung besitzt, zeigt sich seit dem 20. Jahrhundert ein zunehmendes Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Generationskonzepten. Nennen möchte ich zum einen das an politischer Zeitgenossenschaft orientierte Generationskonzept in Anlehnung an Karl Mannheim, das bevorzugt in historischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Studien rezipiert wird (Mannheim 1928). Es unterstellt eine „dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisationsbedingungen“ (Jureit 2012: 352) und kann so in Verbindung zu Vorstellungen von „kollektiver Identität“ stehen (Niethammer 2003).

Ein stärker vertikales, genealogisches Generationskonzept findet insbesondere in demografischen, pädagogischen und psychoanalytischen Disziplinen Verwendung (Jureit 2012: 354). Dabei zeigen sich Differenzierungen zwischen einem genealogischen Generationskonzept im engeren Sinne, das mit „Vorstellungen von Herkunft, Abstammung und Reproduktion assoziiert“ (ebd.) ist, und einem, das die soziale Formation der Familie mit ihren „Sozialisations-, Tradierungs- und Erziehungsleistungen“ (ebd.: 365) in den Fokus nimmt (Reulecke 2003: VIII) und am geeignetsten ist, familiale Generationskonzepte zu beschreiben. Von Interesse sind diese unterschiedlichen Generationskonzepte, weil sie mehr oder weniger explizit jenen sozialwissenschaftlichen Studien zugrunde lagen, die zur Karriere des Begriffs der ‚zweiten Generation‘ beitrugen, und weil sie ihren Weg in den politischen Sprachgebrauch sowie in die Selbstbeschreibungen von Migrantinnen und Migranten fanden.

In den USA als ‚klassischem‘ Einwanderungsland prägten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts statistische Berichte, wissenschaftliche Studien und politische Reden den Begriff second generation. Assoziiert wurde er mit besseren Chancen im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt. Die als second generation adressierte Bevölkerungsgruppe wurde deutlich der Erwartungshaltung zur Assimilation bzw. americanization ausgesetzt. Dabei wurden einige der frühen wissenschaftlichen Texte zur second generation von Autorinnen und Autoren verfasst, die selbst zu dieser Bevölkerungsgruppe zählten (Sleszynski 1921; Roucek 1934). Allerdings kam es auch zu ethnischen Differenzziehungen zwischen früher Eingewanderten aus Großbritannien, Irland, Deutschland und Skandinavien und später Eingewanderten aus Italien oder Osteuropa (Portes/Rumbaut 2014: 7-9). Die Begriffsverwendung second generation hielt sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und bezog sich auf „children of foreign-born parents“ bzw. „U.S.-born children of immigrants“ (ebd. 2001: 19). Mit dem Verweis auf Geburt und Eltern war ein dezidiert genealogisches Generationskonzept verbunden, das ethnisierende Wirkung besaß, auch wenn die Betroffenen selbst über keine eigene Migrationserfahrung verfügten.

Für Deutschland kam es vor 1945 zu keiner vergleichbaren Begriffsprägung. Dies lag sowohl an der anhaltenden Auswanderung nach Übersee als auch daran, dass im Kaiserreich und in der Weimarer Republik überwiegend saisonal beschäftigte Arbeitskräfte und dann in der Zeit des Nationalsozialismus Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nach Deutschland kamen. Die zunächst als dauerhafter angesehene polnische Zuwanderung ins Ruhrgebiet kam um 1918 durch Rückwanderungen in den neuen polnischen Staat und durch Weiterwanderungen nach Frankreich zum Erliegen. In der Weimarer Republik zogen Grenzverschiebungen und staatliche Neuordnungen in Mitteleuropa zwar eine umfangreiche Einwanderung nach sich, doch kehrte sich diese demografische Entwicklung schon in der Weltwirtschaftskrise und unter der NS-Verfolgungspolitik wieder in eine verstärkte Emigration aus Deutschland um. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde dann damit begonnen, durch angeordnete Umsiedlungen in das ‚Reich‘ eine neue Bevölkerungsgruppe zu privilegieren, die ‚Volksdeutschen‘, die aus politischen Gründen als zugehörig und dadurch zumindest formal nicht als ethnisch anders markiert wurden.

Migra­tion und Gene­ra­tion nach 1945

Die rund zwölf Millionen Vertriebenen, Geflüchteten und Umgesiedelten in den 1940er Jahren stellten in der deutschen Geschichte der Neuzeit ein Migrationsphänomen von bislang ungekanntem Ausmaß dar. Überlegungen zum Umgang mit ihnen bezogen auch generationelle Fragen ein. Zum einen legte das Bundesvertriebenengesetz vom 19. Mai 1953 in §7 die Vererbbarkeit des Vertriebenenstatus auf Kinder fest, die nach der Vertreibung geboren oder legitimiert worden waren (BGBl. I 1953). Damit war die politische Absicht verbunden, den Anspruch auf Rückkehr in die ‚alte Heimat‘ gegen alle Anzeichen realer Aussichtslosigkeit über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten zu können. Es steht außer Frage, dass diese Vorstellung die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu ihren östlichen Nachbarländern über Jahrzehnte belastete. Darüber hinaus wirkte die Vererbbarkeit des Vertriebenenstatus ethnisierend, da sie die Konstruktion einer ethnisch deutschen Zugehörigkeit, die insbesondere beim „volksdeutschen“ Teil der Vertriebenen und Geflüchteten aus Mittel- und Osteuropa durchaus prekär war (Panagiotidis 2019: 45-49), im Sinne eines ethnisch-völkischen Verständnisses von Nation stützte und aktualisierte.

In der Nachkriegszeit waren die Kinder von Vertriebenen und Geflüchteten auch in sozialer Hinsicht ein viel diskutiertes Thema in Politik, Publizistik und Wissenschaft (Zahra 2011; Ackermann 2004). Die genaue Bestimmung der ‚Vertriebenenkinder‘ und ‚Flüchtlingsjugend‘ blieb jedoch unscharf. Umfasste sie nur Kinder und Jugendliche, die noch im Herkunftsgebiet geboren waren und die Umstände der erzwungenen Migration miterlebt hatten? Oder zählten auch die in den alliierten Besatzungszonen bzw. später in der Bundesrepublik und in der DDR zur Welt gekommenen Kinder dazu? In zunehmendem Maße jedenfalls wurde der Vertriebenenstatus ausschlaggebend für die problem- und defizitorientierte Kategorisierung als ‚Flüchtlingsjugend‘.

Ein neuer Begriff blitzte 1959 auf, als der Soziologe und Bildungsforscher Eugen Lemberg in dem dreibändigen Werk Die Vertriebenen in Westdeutschland auf die „Sozialforschung an den Einwanderern in Amerika“ Bezug nahm und den dort gemessenen Bildungsaufstieg der „zweiten Generation“ als Zukunftsszenario für die deutschen Vertriebenen skizzierte (Lemberg 1959: 382). Allerdings wurde dieser Ansatz nicht systematisch weiterverfolgt. In seinem einflussreichen Werk Die skeptische Generation befand Helmut Schelsky: „Der Gegenstand einer speziellen Soziologie der Flüchtlingsjugend scheint sich mir in allen irgendwie wichtigen Aspekten in der Auflösung zu befinden.“ (Schelsky 1957: 429) Die ‚Flüchtlingsjugend‘ als Untersuchungsobjekt blieb somit weitgehend an die frühe Nachkriegszeit gebunden und auf die Bundesrepublik beschränkt.

Kaum Beachtung fanden in der damaligen wissenschaftlichen Debatte kleinere Gruppen von Migrantinnen und Migranten. Hierzu gehörten insbesondere politische Emigrantinnen und Emigranten, die sich teilweise mit verbliebenen Displaced Persons (DP) überschnitten. In der Bundesrepublik zählten dazu Angehörige des antikommunistischen Exils, in der DDR solche des kommunistischen Exils. Gleichwohl unternahmen diese Gruppen Anstrengungen, eigene Wissensbestände und Normen an ihre Kinder weiterzugeben. Dies zeigte sich besonders augenfällig beim ‚muttersprachlichen Unterricht‘, den es sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR gab. Seine begriffliche Einordnung ist ambivalent. Die zeitgenössische Prämisse ging von einer feststehenden, gleichsam organisch bedingten ‚Muttersprache‘ aus. Phänomene der Mehrsprachigkeit oder des Sprachwechsels waren damit ausgeblendet. In dieser Begriffstradition stellt ‚Muttersprache‘ einen Pfeiler des ethnischen Nationsverständnisses dar.

Der ethnisierende Effekt wirkte allerdings in zwei Richtungen: Bis in die 1960er Jahre hinein war „muttersprachlicher Unterricht“ mit Deutschunterricht für deutschsprachige Kinder insbesondere im Grundschulalter konnotiert gewesen (Rutt 1968). Mit dem ‚muttersprachlichen Unterricht‘ für ausländische Kinder und Jugendliche erfolgte eine migrantisierende Bedeutungsverschiebung, während der Status eines in Pädagogik, Didaktik und Kultusverwaltung vertrauten Begriffs erhalten blieb. Damit war für den migrationsbezogenen ‚muttersprachlichen Unterricht‘ die Anerkennung als offizielles Unterrichtsfach leichter gesichert. In die praktische Umsetzung des ‚muttersprachlichen Unterrichts‘ mit Lehrkräften aus den jeweiligen Herkunftsländern spielte neben der Idee der ethnischen Herkunft auch die der ‚Erziehungsleistung‘ hinein. Sie verschob sich zumindest teilweise von einem familialen Generationsverständnis zu einer gemeinschaftlichen transgenerationellen Verantwortung der – je nach Selbstbeschreibung – Diaspora, Exil-Gruppe oder Community.

‚Mut­ter­sprach­li­cher Unter­richt‘ für die ‚zweite Gene­ra­ti­on‘: Etablie­rung und Aneig­nung

Der von Migrantinnen und Migranten häufig geäußerte Wunsch, die Zukunftschancen ihrer Kinder und Jugendlichen zu verbessern (Hoerder 2005: 534), stand zum ‚muttersprachlichen Unterricht‘ und der Weitergabe eigener Wissensbestände und Normen nicht im Widerspruch, setzte aber in stärkerem Maße Interaktionen mit der Gesellschaft des Aufnahmelandes voraus und zielte somit immer auch auf die Frage der ‚Integration‘.

Mit der Arbeitskräftemigration auf Grundlage bilateraler Anwerbeabkommen kamen seit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Familien in die Bundesrepublik, deren Kinder lange Zeit als „Gastarbeiterkinder“ oder „Ausländerkinder“ bezeichnet wurden – und dies nicht allein in einem wenig reflektierten alltags- oder verwaltungssprachlichen Gebrauch, sondern auch in Fachveröffentlichungen (Borelli/Spremberg/Spremberg 1973) oder im Titel pädagogischer Zeitschriften. So gab die Forschungsstelle Ausländische Arbeiterkinder an der PH Freiburg 1980 bis 1987 die Zeitschrift Ausländerkinder. Forum für interkulturelles Lernen in Schule und Sozialpädagogik heraus. Die Wortbildung ähnelte strukturell den ‚Vertriebenenkindern‘, doch die damit verbundenen ethnisierenden und migrantisierenden Effekte waren anders gelagert, weil die Konstruktion aufgrund einer ethnisch als ‚nicht-deutsch‘ markierten Zugehörigkeit erfolgte und zugleich die Annahme einer baldigen Rückkehr in das Herkunftsland mitschwang.

Der explizite Bezug auf die ‚zweite Generation‘ erfolgte ab Mitte der 1970er Jahre und beinhaltete eine weitere Akzentverschiebung: So wuchs das Bewusstsein für die Temporalität des Zuwanderungsprozesses und die Tendenz einer dauerhaften Ansiedlung von Migrantinnen und Migranten. Einer der ersten einschlägigen wissenschaftlichen Texte zur ‚zweiten Generation' stammt aus dem Jahr 1976 (Schrader/Nikles/Griese 1976). Der Begriff wurde dort der amerikanischen Forschungsliteratur entnommen. Darüber hinaus war der Erstautor, Achim Schrader, von Helmut Schelsky promoviert worden und daher mit der soziologischen Generationsforschung eng vertraut. Rasch fand der Begriff Eingang in institutionalisierte Zusammenhänge. Beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung entstand der Arbeitskreis Zweite Ausländergeneration, Bundesländer stellten Konzeptionen zur Verbesserung der Situation der zweiten Ausländergeneration vor und auch auf kommunaler Ebene bildeten sich Arbeitskreise zur Zweiten Ausländergeneration. Anfang 1978 fiel zum ersten Mal in einer Plenardebatte des Bundestags der Begriff „zweite Ausländergeneration“ (Deutscher Bundestag 1978: Pt. 8/69).

Ähnlich wie bei den Kindern und Jugendlichen der deutschen Vertriebenen, Geflüchteten und Umgesiedelten war nicht eindeutig definiert, wer als ‚zweite Generation‘ gelten konnte. Der Deutsche Städtetag bezog sich auf eine „hier geborene Ausländergeneration“ (Deutscher Städtetag 1980: 12), während eine sozialpädagogische Studie auch Kinder und Jugendliche einbezog, die „nachgeholt“ wurden und „die entscheidenden Lebensjahre ihrer Erziehung und Ausbildung in unserer Gesellschaft“ verbracht hatten (Gastager/Niemeyer 1984: 6). Die Soziologin Annette Treibel bemühte sogar ein konkretes Datum. Für sie seien alle Zugewanderten, die bis zum Anwerbestopp 1973 gekommen waren, als „erste Generation“ zu bezeichnen, die in Deutschland geborenen Kinder dann als „zweite Generation“ (Treibel 1999: 129).

Diese Definition übersah, dass Kinder von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten schon früh in Deutschland geboren worden waren, wie Kurslisten für den italienischen „muttersprachlichen Unterricht“ in Hessen zu Beginn der 1960er Jahre zeigen (HHStA Wiesbaden, 504, 909b). Auch bedeutete der Anwerbestopp von 1973 allenfalls eine weiche Zäsur, denn der Familiennachzug war bereits in vollem Gange und die Arbeitsmigration verwob sich zunehmend mit den teils parallel verlaufenden Migrationsbewegungen von Aussiedlung, Flucht und Asylsuche. Schließlich blieb die Frage offen, ob Kinder aus den keineswegs seltenen binationalen Ehen ebenfalls zu dieser ‚zweiten Generation‘ zählten.

Die Definitionsschwierigkeiten spiegelten die Vielfalt und Temporalität der Migrationsprozesse. ‚Zweite Generationen‘ konnte es in unterschiedlichen Zeitphasen der Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland geben. Sie waren aber nicht nur ein demografisch-statistisches Phänomen, sondern auch durch höchst ambivalente politisch-kulturelle Zuschreibungen charakterisiert. Dem Vertrauen in die stärkere Bindung der ‚zweiten Generation‘ an die Aufnahmegesellschaft standen Befürchtungen gegenüber, eine ‚Integration‘ könne scheitern. Letzteres äußerten sowohl politische Akteure – wie die CDU/CSU-Fraktion im deutschen Bundestag, die 1978 eine „Neue Soziale Frage“ mit der Gefahr von Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität erkannte (Deutscher Bundestag 1978: Ds. 8/1811; Deutscher Bundestag 1978: Pt. 8/97) –, aber auch gesellschaftliche Akteure – wie der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der 1983 in dem Papier Zur Erziehung und Bildung muslimischer Kinder und Jugendlicher davon ausging, dass ausländische Kinder und Jugendliche „in der Spannung zwischen den Werten und Normen ihrer Herkunft und denen der deutschen Gesellschaft“ lebten und sich dadurch zwangsläufig „in Konfliktsituationen“ befänden (BArch Koblenz, B 304, 7783). Schlaglichtartig zeigte sich damit die Widersprüchlichkeit des Integrationsdiskurses, der seit den 1970er Jahren an Stärke gewonnen hatte. Denn die Charakterisierung von Kindern und Jugendlichen als ‚zweite Generation‘ verstärkte geradezu migrantisierende und ethnisierende Effekte, indem verstetigte Differenzen zur ethnisch ‚deutsch‘ gedachten Gesellschaft der Bundesrepublik konstruiert wurden.

Ausein­an­der­set­zun­gen um die Rolle von Bildung und Schule

Für die Diskussion über die ‚zweite Generation‘ waren Schule und Bildung zentral. Dem Wunsch nach verstärkter Integration entsprechend, sollten ‚ausländische‘ Kinder und Jugendliche statt in spezielle Vorbereitungs- oder zweisprachige Klassen, die sich im Verlauf der 1970er Jahre etabliert hatten, in Regelklassen eingeschult werden und allenfalls Förderunterricht in Deutsch erhalten. Eine Alternative bot das Konzept der Bikulturalität. Eine UNESCO-Expertentagung 1973 in Paris sprach sich dafür aus, den Schulunterricht stärker zweisprachig auszurichten (BArch Koblenz, B 304, 3290). Allerdings traf diese Idee auf anhaltende Skepsis. So war in wissenschaftlichen Studien von der Dichotomie „Zweisprachigkeit oder doppelte Halbsprachigkeit“ die Rede (Nieke 1991: 18-19).

Auch aus diesem Grund richtete sich der Blick auf den Ausbau eines neuen Fachs: Deutsch als Fremdsprache. Es stand im Spannungsfeld zwischen einem auf die Entwicklung von Lehrmaterialien ausgerichteten, technisch-umsetzungsorientierten Projekt einerseits und gesellschaftspolitischen Diskussionen über Zielgruppen und Erwartungshorizonte andererseits. Die um 1980 vollzogene, symptomatische Umbenennung des Fachs Deutsch als Fremdsprache in Deutsch als Zweitsprache unterstrich die Verbindung zur ‚zweiten Generation‘.

Die Positionierung von Migrantinnen und Migranten gegenüber dem deutschen schulischen Angebot war heterogen. Während jene, die im Zuge der Arbeitsmigration aus Italien, Spanien oder Portugal gekommen waren, für ihre Kinder zumeist den Besuch deutscher Regelklassen wünschten und den ‚muttersprachlichen Unterricht‘ verhalten beurteilten, vertraten Migrantinnen und Migranten aus Südosteuropa häufiger entgegengesetzte Forderungen. Sie setzten sich für private „nationale Schulen“ und gegen die Einschulung ihrer Kinder in deutsche Regelklassen ein (Damanakis 1982). So erklärten griechische Elternvereine 1981 in Baden-Württemberg: „Gegen die geplante Zwangsintegration der 2. Generation werden wir uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wehren.“ (HStA Stuttgart, EA 3/609, Bü. 101) Eine ähnliche Argumentation gegen eine drohende „Germanisierung“, wenn auch noch ohne Bezug auf eine „zweite Generation“, verwendeten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Organisationen von DPs und des politischen Exils (TNA Kew, FO 1052/52).

Mit der Aneignung und Umwidmung des Begriffs ‚zweite Generation‘ für ihre Anliegen signalisierten Migrantinnen und Migranten zweifellos politische Dringlichkeit. Die ethnisierenden Implikationen des Begriffs erschienen dabei weniger als Hindernis, sondern harmonierten durchaus mit der Zielsetzung, eigene Normen und Wissensbestände durch die Weitergabe an Kinder und Jugendliche für die Zukunft zu bewahren und sie vor den politischen und gesellschaftlichen Einflüssen des Aufnahmelandes zu schützen. Dies war nicht allein eine nationalistische Agenda. Bedeutsam war vielmehr die transgenerationelle Erfahrung, denn viele der skeptischen Migrantinnen und Migranten kamen aus Herkunftsländern, die im Zweiten Weltkrieg die Besatzungsherrschaft des nationalsozialistischen Deutschlands erlitten hatten.

Chan­cen und Aufbrü­che

Obwohl sich in den späten 1980er und 1990er Jahren die migrationsgeschichtliche Konstellation veränderte, blieben Bildungsverläufe wichtig für die Bestimmung einer ‚zweiten‘ und ,dritten Generation‘. In einer Erhebung des Deutschen Jugend-Instituts wurde konstatiert, Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg von Migrantinnen und Migranten hätten stark zugenommen, insbesondere im Vergleich zur Großeltern- und Elterngeneration. Der Soziologe Bernhard Nauck sprach von einer „außerordentlich starken intergenerativen Bildungsmobilität“ (Nauck 2002: 333). Auch wenn ethnisierende und migrantisierende Implikationen den Begriff der ‚zweiten Generation‘ weiterhin begleiteten, so erschien er nicht länger nur als Problembegriff, sondern signalisierte Chancen und Aufbrüche.

Auf europäischer Ebene ging in den 2000er Jahren das Forschungsprojekt The Integration of the European Second Generation (TIES) unter niederländischer Führung an den Start, das in Frankreich, Deutschland, Spanien, Österreich, Belgien und Schweden sowie in den Niederlanden und der Schweiz die Lebensverhältnisse von Nachkommen Eingewanderter aus der Türkei, Jugoslawien und Marokko untersuchte. Im Zentrum standen Fragestellungen nach Arbeitsmarkt, Wahl der Partnerinnen und Partner, religiösen Bindungen und kultureller Identität. Das Erkenntnisinteresse der Studie stand unter dem Primat der Integration und kulminierte in der Frage: „Are certain integration problems inherent to particular group characteristics or could different policies (at least partly) prevent them?“ (Crul/Schneider 2012: 400)

Eine abschließende Antwort gab die Studie nicht, doch war bemerkenswert, dass sie second generation als gemeinsamen Begriff voraussetzte, obwohl das zu diesem Zeitpunkt keine Selbstverständlichkeit mehr war. So war in den USA in den 1990er Jahren Migration wieder zu einem gesellschaftlichen Großthema geworden. Es wurde nunmehr zwischen einer „old second generation“ (europäische Einwanderung vor dem Zweiten Weltkrieg) und einer „new second generation“ (Einwanderung in den 1990er Jahren aus asiatischen und lateinamerikanischen Ländern) unterschieden (Portes/Rumbaut 2001: 21-22; 2014: 258-305). Die Bewertungen der ameri­kanischen Migrationsforschung schwankten dabei zwischen einem integrationsorientierten „growing up American“ (ebd. 2014: 258) und der tendenziell ergebnisoffenen Antizipation einer demografischen Entwicklung: „A new society is arising in our midst.“ (ebd. 2001: XVIII)

Eine Ausdifferenzierung der Diskussion zeigte sich seit den 1990er Jahren ebenfalls in Deutschland, als eine Reihe von Autoren und Autorinnen mit familiärer Migrationsgeschichte damit begann, in ihren eigenen wissenschaftlichen Arbeiten das Konzept der ,zweiten Generation‘ explizit als Untersuchungsgegenstand zu wählen. Die Psychologin Ülger Polat definierte die „zweite Generation“ als Kinder von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, „die entweder den in Deutschland arbeitenden Eltern aus der Türkei nachfolgten oder in Deutschland geboren sind“ (Polat 1997: 13). Sie betonte, dass es sich hinsichtlich Einreisealter, Aufenthaltsdauer, Geburtsland sowie schulischer und beruflicher Ausbildung um eine sehr heterogene Gruppe handele und nahm damit nicht nur die Vielfalt der Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik auf, sondern pries auch das Konzept der Bikulturalität, das dazu beitrage, die Leistung der Jugendlichen, „in zwei Kulturen aufzuwachsen“ und „sich in ihnen zu behaupten“, anzuerkennen (ebd.: 152-157).

In eine ähnliche Richtung ging die Sozialpädagogin Nilüfer Keskin, die sich in ihrem Vorwort als Angehörige der „zweiten Generation“ verortete und das persönlich gehaltene Fazit zog: „Wir Migrantenkinder der zweiten Generation brauchen die anatolische und die deutsche Erde gleichermaßen, um aufzublühen.“ (Keskin 2010: 7, 145) Ein stärker genealogisches Generationskonzept brachte die Ethnologin Hülya Tasci ein, als sie die alevitische Community untersuchte und Interviewpartnerinnen und Interviewpartner der „zweiten Generation“ auswählte: „Die betreffende Person oder deren Eltern betrachten und bezeichnen sich selbst als alevitisch bzw. bekennen sich zum Alevitentum.“ (Tasci 2006: 137) Wenngleich Tasci Ethnizität und Identität als dynamische Konstruktionen anerkannte, kam sie in der Zusammenfassung der Studie zu einem anders nuancierten Schluss: Demnach seien „das Alevitentum sowie die diversen sprachlichen Zugehörigkeiten auf die Existenz einer dauerhaften, regenerationsfähigen und abgrenzbaren Population angewiesen.“ (Ebd.: 388-389)

Fazit

Der Begriff ‚zweite Generation‘ ist in der deutschen Migrationsdebatte bis heute aktuell, besitzt allerdings keine Monopolstellung. Zu einer viel zitierten Alternative hat sich im 21. Jahrhundert der anfänglich rein statistische Begriff ‚Migrationshintergrund‘ entwickelt, dem ebenfalls eine stark genealogische Tendenz zu eigen ist, da er sich auf das Stichjahr 1950, auf Eltern und Großeltern bezieht. Inwieweit Konzepte wie das der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ einen Paradigmenwechsel bedeuten und künftig die Unterscheidung zwischen ‚nicht-deutscher‘ und ‚deutscher‘ Generationalität an Schärfe verliert, bleibt abzuwarten. Dafür müsste allerdings die Verwendung des Begriffs ‚zweite Generation‘ im Schwinden begriffen sein, dem seit seinen Anfängen im frühen 20. Jahrhundert in Nordamerika ethnisierende und migrantisierende Effekte grundsätzlich und durchgängig inhärent waren. Zwei Tendenzen wirken dem entgegen. Zum ersten verblasst die historische Migrationserfahrung von als ethnisch ,deutsch‘ wahrgenommenen Bevölkerungsgruppen und dadurch wird die Vorstellung der Vererbbarkeit eines migrationsbedingten Status bzw. der Zugehörigkeit zur ‚zweiten Generation‘ eindeutiger als früher mit ethnisch als ,nicht-deutsch‘ angesehenen Bevölkerungsgruppen assoziiert. Zum zweiten zeigt sich im Umgang mit neuen Migrationsbewegungen wie der Asyl- und Fluchtmigration die Temporalität einer Migrationsgesellschaft nicht nur als Wissens- und Erfahrungsgewinn, sondern auch als Ausgangspunkt für Abgrenzungen und Hierarchisierungen. Gegenüber den neu Ankommenden wird Seniorität demonstriert und das nicht nur von der sich als ethnisch als deutsch verstehenden Bevölkerung, sondern teilweise auch von Migrantinnen und Migranten, die der ‚zweiten‘ oder ‚dritten Generationen‘ zugerechnet werden. Das geltende deutsche Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts- und Asylrecht stützt diese (Selbst-)Wahrnehmung.

Lite­ra­tur

Zum Weiterlesen

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