Die Frage nach dem europäischen Selbstverständnis in Bezug auf andere Ethnien, races oder Kulturen ist nicht neu. Es gibt keinen historischen Zeitpunkt, an dem sich Europäer:innen nicht in Abgrenzung zu einer Gruppe der ‚Anderen‘ definiert hätten. Die ‚Anderen‘ waren entweder bestimmte ethnische oder nationale Gemeinschaften in Europa oder ‚Fremde‘ von außerhalb. Der Begriff Multikulturalismus ging jedoch erst in den späten 1970er Jahren ins europäische Vokabular ein, als der Umgang mit ethnischer und kultureller Differenz zur Debatte stand. Dieser Prozess soll exemplarisch am westdeutschen Fall betrachtet werden.
Die bundesdeutsche Gesellschaft setzte sich lange Zeit nicht mit der Frage von ethnischen Unterschieden auseinander. Diese Leerstelle wirkt angesichts des nationalsozialsozialistischen Genozids an jüdischen Menschen und den Bestrebungen des NS-Regimes, eine homogene deutsche Nation zu schaffen, seltsam. Bestimmt wurde die politische Agenda der frühen Bundesrepublik durch die alliierte Besatzung und den beginnenden Kalten Krieg. Für die politische Führung des Landes schien zu diesem Zeitpunkt ethnische Differenz nicht relevant. Ihrer Einschätzung nach machte die weitgehend homogene Nachkriegsbevölkerung des Landes diese Frage obsolet. Als das Grundgesetz entworfen wurde, entschieden sich westdeutsche Politiker:innen daher in der Frage nach der Regelung der Staatsbürgerschaft für das alte Kriterium der Abstammung. Ein Grund dafür war das Ziel, Westdeutschland als „Heimat für alle Deutschen in der kommunistischen Diaspora“ zu erhalten (Joppke 1999: 63). Die Teilung des Landes im Kalten Krieg bestätigte die Priorisierung des Anspruchs eines jeden Deutschen aus dem kommunistischen Osten auf die Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik. Diese Entscheidung hatte erhebliche Konsequenzen für die Entwicklung der multikulturellen deutschen Gesellschaft.
Gleichzeitig hatte Westdeutschland durch den Krieg viele arbeitsfähige Männer verloren, was den Wiederaufbau behinderte. Nachdem die Lücke zunächst mit den sogenannten Vertriebenen aus Osteuropa gefüllt worden war, unterschrieb das Land ab 1955 eine ganze Reihe von Verträgen zur Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften. Wer nach Deutschland kam, wurde nicht als Einwander:in betrachtet, die es willkommen zu heißen und zu integrieren galt, sondern als Arbeitsmigrant:in auf Zeit, die definitiv nach Hause zurückkehren würde. Diese Erwartung wurde offen ausgesprochen und als Beschreibung für angeworbene Arbeiter:innen aus Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Portugal und der Türkei im Begriff ‚Gastarbeiter:in‘ verankert. In den Verträgen wurde die Arbeitserlaubnis auf zwei Jahre beschränkt und so die Erwartungshaltung an die zeitliche Begrenzung manifest.
Unter dem Druck aus der Industrie, deren Vertreter sich über die Kosten der erzwungenen regelmäßigen ‚Rotation‘ der Arbeitskräfte beschwerten, wurden die Aufenthaltsgenehmigungen in den ersten zehn Jahren zunächst in aller Stille verlängert. Diese Ad-hoc-Veränderung ermutigte zehntausende Arbeitsmigrant:innen dazu, ihre Familien nachzuholen und Wurzeln zu schlagen. 1966 waren mehr als eine Million ‚Gastarbeiter:innen‘ nach Deutschland gekommen und 1970 war klar, dass aus der befristeten Arbeitsmigration eine dauerhafte Ansiedlung geworden war. Trotzdem bestanden deutsche Politiker:innen weiter darauf, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland.
Als 1973 die Ölkrise auch Deutschland in die Rezession fallen ließ, schienen wirtschaftliche Argumente die dauerhafte Anwesenheit ausländischer Arbeitskräfte nicht länger zu rechtfertigen. Angesichts von steigender Inflation und Arbeitslosigkeit stoppte die Bundesrepublik folglich die Anwerbung von Arbeitskräften und signalisierte damit, der Moment ihrer Rückkehr sei gekommen. Die Entscheidung sollte verhindern, dass weitere Ausländer:innen ins Land kamen. Doch die meisten der Arbeitsmigrant:innen blieben, besonders jene aus der Türkei. Ende der 1970er Jahre konnte Westdeutschland nicht mehr leugnen, oder ignorieren, dass die Anwerbeabkommen der Nachkriegszeit einen demografischen Wandel angestoßen hatten.
Der Umgang Deutschlands mit seiner de facto multikulturellen Gesellschaft war jedoch nicht einheitlich. Während Sozialdemokrat:innen und jene Politiker:innen und Bürger:innen im linken Spektrum den Tatsachen zunehmend ins Auge sahen – aus Arbeitsmigrant:innen waren Eingewanderte geworden – und ihre Integration forderten, äußerten andere große Vorbehalte gegenüber der Veränderung der demografischen Zusammensetzung des Landes. Im Jahr 1978 schufen SPD-Politiker:innen ein neues Amt auf Bundesebene, um die nationalen Integrationsmaßnahmen zu koordinieren: den „Ausländerbeauftragten“. Zwei Jahre später finanzierten die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam den „Tag des ausländischen Mitbürgers“. Bei dieser Veranstaltung war explizit von Deutschland als „multikultureller Gesellschaft“ die Rede, was den US-amerikanischen Begriff zum ersten Mal in die Diskussion über die Nachkriegseinwanderung einbrachte (Radtke 1994; Klopp 2002). Jürgen Micksch, einer der Organisator:innen, erklärte, der Bezug auf die „multikulturelle Gesellschaft“ sei bewusst hergestellt worden. Ziel sei es gewesen, die Wahrnehmung von langfristig eingewanderten Ausländer:innen in der Öffentlichkeit zu steigern und ihre Kultur und Menschlichkeit zu unterstreichen. Statt ‚Gastarbeiter:innen‘ über ihre Probleme oder ihren wirtschaftlichen Wert zu definieren, wollten sie Deutsche dazu ermutigen, ihre ‚ausländischen Mitbürger:innen‘ als Träger:innen von Bräuchen und Kulturen zu betrachten. Schließlich könnten diese im Rahmen des Integrationsprozesses die deutsche Kultur bereichern (Micksch 1991: 5–16).
Auf der anderen Seite wurde 1981 vom Büro des Kanzlers eine Umfrage in Auftrag gegeben, in der die Hälfte der Befragten angab, sich von „Überfremdung“ bedroht zu fühlen (Kahn 2024: 183). Im selben Jahr veröffentlichte eine Gruppe von rechtskonservativen Professoren das sogenannte Heidelberger Manifest. Ihrer Ansicht nach machte es die Integration einer großen Anzahl von Nicht-Deutschen unmöglich, das deutsche Volk und seine kulturelle Identität zu erhalten. Aus ihrer Sicht seien „Völker“ fundamental unvereinbar, weil sie – so die rassistische Ansicht – „genetisch“ verschieden seien und diese Differenzen „durch Traditionen weitergegeben werden“. Sie warnten sogar davor, dass jeder Integrationsversuch zur weithin „bekannten ethnischen Katastrophe der multikulturellen Gesellschaften“ (Die Zeit 1982: 61) führen werde. Kulturelle Koexistenz – ganz abgesehen von Vermischung – bedrohe die Integrität der deutschen Kultur.
Andere Konservative reagierten auf die demografische Veränderung, indem sie sich die türkischen Arbeitsmigrant:innen aufgrund ihrer meist islamischen Religionszugehörigkeit herauspickten. Anstatt also die Koexistenz verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft prinzipiell abzulehnen, erklärten sie die islamische Kultur und ihre Bräuche als mit der deutschen Identität unvereinbar. In einer zentralen Bundestagsdebatte im Jahr 1982 verurteilte der CDU-Abgeordnete Alfred Dregger die regierende SPD für ihr Versagen bei der Kontrolle des Zustroms von ‚Ausländer:innen‘, während er gleichzeitig eine Kulturtheorie skizzierte. Ohne sich explizit auf Multikulturalismus zu beziehen, argumentierte er, es liege in der menschlichen Natur, die eigene nationale Identität zu bewahren. Ein Land könne demnach nur Zuwandernde akzeptieren, die in der Lage seien, sich zu assimilieren. Die Religion und Bräuche der Menschen aus der Türkei seien jedoch zu fremd und daher nicht assimilierbar. Dregger achtete darauf, die deutsche Kultur der türkischen als weder über- noch unterlegen darzustellen und erklärte sie kurzerhand für inkompatibel (Bundestag 1982: 4892–4894). Als die Christdemokraten die Bundestagswahl 1983 deutlich gewannen, änderte sich der politische Kurs: Arbeitsmigrant:innen aus der Türkei wurde vorgeworfen, sie würden ihre Kultur einführen, sich nicht an die Normen und Werte Deutschlands halten und somit die Integrität der Gesellschaft bedrohen. Noch bevor die sozialdemokratischen Integrationsbemühungen richtig Fuß fassen konnten, wurde grundsätzlich infrage gestellt, dass multikulturelle Vielfalt die deutsche Gesellschaft bereichern könnte.
Auf lokaler Ebene gingen Politiker:innen des gesamten politischen Spektrums die Frage eines multikulturellen Deutschlands pragmatischer an. Geprägt von den Herausforderungen vor Ort konzentrierten sie sich auf die Aushandlung kultureller Koexistenz. Als Reaktion auf die im Verlauf der 1980er Jahre zunehmende Fremdenfeindlichkeit verlangte der Grünenpolitiker Daniel Cohn-Bendit von der Stadt Frankfurt, sie solle ein Amt für multikulturelle Angelegenheiten einrichten, um Integrationsbemühungen zu fördern. 1988 erklärte der CDU-Bürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel, ‚Ausländer:innen‘ sollten das Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten. Gleichzeitig schlug die Ausländerbeauftrage von Berlin, Barbara John, vor, die Staatsbürgerschaft von der kulturellen Identität zu lösen, um Eingewanderten den Weg zur Einbürgerung zu eröffnen. Sowohl Rommel als auch John vermieden das Wort Multikulturalismus. Gleichwohl richteten sie ihren Fokus auf die Erweiterung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts und die Öffnung der Staatsbürgerschaft für Arbeitsmigrant:innen und ihre Nachkommen als notwendigen Entwicklungsschritt, damit Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft werden könne. Ohne diese Reform würden Migrant:innen auch nach 30 Jahren in der Bundesrepublik noch mit einem rechtlich prekären Aufenthaltsstatus leben und Deutsche würden sie weiterhin als Eindringlinge betrachten, statt sie als legitime Mitglieder der Gesellschaft anzusehen.
Die deutsche Debatte um Multikulturalismus erreicht ihren Höhepunkt Anfang 1989: Die Rushdie-Affäre in Großbritannien verstärkte das Misstrauen gegenüber einer bestimmten Gruppe ‚fremder‘ Einwohner:innen in Westeuropa: Muslim:innen. Nachdem der britisch-indische Autor Salman Rushdie seinen Roman Die satanischen Verse veröffentlicht hatte, in dem er den Propheten Muhammad in beleidigender Weise darstellt, ging die Debatte durch die Decke. Der iranische Ayatollah Khomeini erließ eine fatwa, die Rushdie zum Tode verurteilte und die muslimische Gemeinde weltweit dazu aufrief, das Urteil umzusetzen. Der westdeutsche konservative Kritiker Dankwart Guratzsch sah in Khomeinis fatwa den „einen tödlichen Frost in die Blümenträume von einer ‚multikulturellen Gesellschaft‘“ (Guratzsch 1989). Die Angelegenheit enthülle die grundlegende Intoleranz im Zentrum des Islam und mache jede Aussicht auf Koexistenz zunichte. Die Affäre um Rushdie wurde von vielen Konservativen dazu genutzt, die Grundannahme von Deutschland als multikultureller Gesellschaft und jede Politik im Sinne des Multikulturalismus abzulehnen. In ihren Augen bestätigte sie den Verdacht, dass die türkische Kultur von Grund auf mit der deutschen Kultur und ihren Werten inkompatibel sei.
Für progressive Kommentator:innen wie Claus Leggewie zeigte die fatwa hingegen das zentrale Dilemma der multikulturellen Gesellschaften Europas – nämlich, wie Konflikte aufgrund kultureller Unterschiede zu lösen seien und welche Parameter in einer demokratischen Gesellschaft Vorrang haben sollten. Leggewie wies zwar die Idee nicht zurück, dass Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft geworden sei, doch kritisierte er jene, die „die Koexistenz der vielen kulturellen communities und Kolonien“ als Alternative zur „nationalen ‚Homogenisierung‘“ befürworteten: Sie würden eine „naive“ Begeisterung für Unterschiede fördern (Leggewie 1989, Hervorh. i. Orig.). Dieser unterentwickelte Multikulturalismus, so seine Argumentation, biete den verschiedenen ethnischen Gruppen keine gemeinsamen Institutionen an, die sie auf geteilte Prinzipien verpflichten würden. Als Alternative forderte er vom deutschen Staat, den sozialen Wandel anzuerkennen und ihn rechtlich abzubilden, und zwar durch das Angebot der Staatsbürgerschaft an die türkischen Arbeitsmigrant:innen und ihre Familien. Zu diesem Zeitpunkt war die Staatsbürgerschaft noch immer durch das Prinzip der Abstimmung definiert. Westdeutschland, so Leggewie, müsse türkischen Muslim:innen eine echte Teilhabe in der Zivilgesellschaft bieten, um einer Hinwendung zum religiösen Extremismus vorzubeugen.
Der entschiedenste Verfechter des Multikulturalismus war in dieser angespannten Stimmung Hilmar Hoffmann, ehemaliger Leiter des Goethe-Instituts und Kulturdezernent der Stadt Frankfurt. Er sah die multikulturelle Gesellschaft in der Bundesrepublik als Tatsache an und argumentierte, Multikulturalismus ließe „eine alle verbindende Ideologie, Religion oder Weltanschauung als immer unmöglicher erscheinen [...]. In diesem Sinne wäre es Aufgabe der Kulturpolitik, das Nebeneinander verschiedener Kulturen als Überlebenschance bewußt zu machen. Wer lediglich von der Bewahrung einer kulturellen Identität spricht, sei es der Deutschen oder der Ausländer, verkennt den dynamischen Charakter des Kulturprozesses“ (Hoffmann 1989). Im Gegensatz zu Kirchenoberhäuptern, die sich für gegenseitige kulturelle Bereicherung einsetzten, stellte sich Hoffmann eine herausforderndere, „dynamische“ Beziehung vor. Eingewanderte sollten weder versuchen, sich zu isolieren oder ihre Kultur vor Einfluss von außen abzugrenzen, noch sollte von ihnen im Namen der ‚Assimilation‘ verlangt werden, sich von ihren Wurzeln abzuwenden. Vielmehr sollten sie sich für eine kulturelle Synthese öffnen, die eine Mischung aus neuen Ideen und Kontexten mit überlieferten Traditionen erlaube. Die Westdeutschen, darauf bestand Hoffmann, müssten sich demselben Prozess stellen.
Die heftigen Debatten darüber, ob und wie die multikulturelle Gesellschaft in Westdeutschland angenommen werden sollte, wurden durch den Fall der Berliner Mauer im November 1989 und die rasche Wiedervereinigung im folgenden Jahr in den Hintergrund gedrängt. Es entfaltete sich eine nach Innen gerichtete Diskussion über eine enger definierte deutsche nationale Identität. In der Tat wurde eine Reform der Staatsbürgerschaft, die von Persönlichkeiten wie Rommel, John und Leggewie als Voraussetzung für eine multikulturelle Gesellschaft in Deutschland erachtet wurde, weitgehend beiseitegeschoben – bis zwischen 1991 und 1993 eine Reihe schockierender Brandanschläge auf ausländische Arbeiter:innen, Geflüchtete und Türk:innen das Land erschütterte. Diese brutalen Übergriffe überzeugten weite Kreise – darunter die Grünen, die SPD, die FDP und sogar einige Mitglieder der CDU sowie viele Kirchen, Gewerkschaften und Intellektuelle – von der Unvereinbarkeit eines auf deutscher Abstammung beruhenden Staatsbürgerschaftsrechts mit einer durch Zuwanderung veränderten freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. 1999 verabschiedet der Bundestag ein überarbeitetes Staatsbürgerschaftsgesetz, das Arbeitsmigrant:innen die Einbürgerung ermöglichte. Die bundesdeutsche Gesellschaft erfüllte damit endlich die Voraussetzungen, um in eine ernsthafte Diskussion über Multikulturalismus als soziales Modell einzusteigen.
In ganz Europa brachte der Zusammenbruch der Sowjetunion die West-Ost-Koordinaten durcheinander, die ein halbes Jahrhundert Bestand hatten. Die Gründung der Europäischen Union bekam eine neue Dringlichkeit. Doch im Versuch, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen, traten die durch die Rushdie-Affäre befeuerten Zweifel am Islam und der muslimischen Kultur deutlicher zutage. Diese Skepsis wurde durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA noch verstärkt. Aus der Sorge um kulturelle Inkompatibilität wurde die Sorge um ein Sicherheitsrisiko. Auf dem gesamten Kontinent begannen politische Kommentator:innen und Politiker:innen, grundlegende Werte der westeuropäischen Gesellschaften (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit) gegen den multikulturellen Ansatz auszuspielen, von dem sie nun behaupteten, er fördere den illiberalen Islam ‚als Lebensform‘ unter dem Deckmantel kultureller Unterschiede.
Dieser Umstand ließ die deutsche Kanzlerin Angela Merkel 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union eine starke Position gegen Multikulturalismus vertreten, nur ein Jahrzehnt nachdem die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsgesetzes in Kraft getreten war. In ihrer viel diskutierten Rede erklärte sie: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ Diese kühne Behauptung ließ viele Menschen in Deutschland (und Europa) annehmen, es herrsche ein breiter Konsens darüber, dass die Integration verschiedener Bevölkerungsteile unmöglich sei. Merkels Ausführungen jedoch waren differenzierter. So räumte sie ein, dass Deutschland selbst die Bedingungen für die Diversität der Nachkriegszeit geschaffen und den Mythos der vorübergehenden Einwanderung aufrechterhalten habe. Manche Politiker:innen ihrer Partei erkannten sogar an, dass gemeinsam mit Christen- und Judentum auch „der Islam jetzt zu Deutschland gehört“ (Detjen 2015). Merkel nahm jedoch auch den ‚muskulösen Liberalismus‘ ihrer Amtskollegen David Cameron und Nicolas Sarkozy vorweg und kündigte an, Deutschland werde ein Integrationsmodell anwenden, das nur in eine Richtung gehe: Arbeitsmigrant:innen und ihre Nachkommen würden verpflichtet, sich an die ‚Leitkultur‘ zu halten. Ihr Ansatz war kein Argument gegen Diversität, sondern eher eine Reihe von Ultimaten; eine Vision, um der Verbreitung von illiberalen Werten und Taten in der Bundesrepublik zuvorzukommen.