Deutsch-deutsche ‚Flüchtlingskrise‘ in den 1950er Jahren
Dass manche Menschen eher aus wirtschaftlichem als aus politischem Zwang migrieren, kam im westdeutschen Diskurs um 1951 auf, also in der Zeit, in der die Genfer Konvention verabschiedet wurde. Die Genfer Konvention entstand als Reaktion auf die Notlage von etwa einer Million ausländischer Menschen, die auch ein Jahr nach der Niederlage der Nazis noch immer in Deutschland lebten. Unter ihnen waren ehemalige Zwangsarbeiter:innen und Überlebende aus Konzentrationslagern. Die Konvention definierte den ‚Flüchtling‘ als eine Person, die „sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“ und aufgrund einer „begründeten Furcht“ nicht in dieses zurückkehren will. Wirtschaftliche Beweggründe wurden in dieser Definition von Flucht nicht berücksichtigt.
Die Entscheidung, nur solche Personen als Flüchtlinge zu definieren, deren Staatsangehörigkeit nicht mit ihrem derzeitigen Aufenthaltsort übereinstimmt, schloss die 12,5 Millionen Heimatvertriebenen ausdrücklich aus. Für sie sollte der neue deutsche Staat Verantwortung übernehmen. Das galt auch für die circa 3,5 Millionen Sowjetzonenflüchtlinge, die die Sowjetzone – später die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – in Richtung BRD verließen. Die Reaktionen der DDR auf diese Ausreisen bestimmten den Charakter ihrer Staatlichkeit: das Schließen der Grenze, Kriminalisierung der Auswanderung und schließlich der Bau der Berliner Mauer.
Was für den Osten eine Auswanderungskrise war, war für den Westen eine Flüchtlingskrise. Die BRD kämpfte bereits mit der Integration der deutschen Vertriebenen und fragte sich nun, ob sie es sich leisten könne, auch noch die Flüchtlinge aus der Sowjetzone aufzunehmen. Der bayrische Radiojournalist Walter von Cube nannte ihre Aufnahme einen Akt der „selbstmörderischen Humanität“ (von Cube zitiert nach Limbach 2011: 84). Ernst August Farke, ein Abgeordneter der Deutschen Partei und Vorsitzender des Niedersächsischen Flüchtlingsausschusses, argumentierte mit einer eindrücklichen Metapher gegen die Aufnahme. Sie klingt bis heute in Slogans nach: „Wir befinden uns in einem Rettungsboot. Das Boot ist überfüllt, und je mehr hereinkommen, desto mehr besteht die Gefahr, daß es umschlägt und alles versinkt“ (Farke zitiert nach Ackermann 1995: 96).
Es wurde auch behauptet, die Flüchtlinge aus der Sowjetzone seien die falschen Leute, nämlich keine aufrechten Bürger:innen, sondern Kriminelle, Prostituierte, Männer, die vor ungewollt verursachten Schwangerschaften flohen, und Müßiggänger:innen, die sich vor der harten Arbeit des Wiederaufbaus drückten, um sich im ‚Goldenen Westen‘ zu entspannen (ebd.: 79-82, Sheffer 2011: 66-70, McLaren 2010: 33-34).
Im März 1950 schätzte das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, dass nur 15 Prozent der Neuankömmlinge tatsächlich vor Verfolgung geflohen seien (Ackermann 1995: 96). Im Sommer desselben Jahres führte das Ministerium ein Notaufnahmeverfahren ein, um ‚echte Flüchtlinge‘ von wirtschaftlichen Opportunist:innen zu unterschieden. Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte machte diese Unterscheidung im Februar 1951 offiziell: „Wirtschaftliche Gründe, ohne eine gleichzeitige persönliche Gefährdung, werden im allgemeinen nicht als Aufnahmegründe anerkannt“ (zitiert nach Limbach 2011: 52).
Die BRD lehnte die Anträge tausender Sowjetzonenflüchtlinge ab. Gleichzeitig fürchtete sie, dass die Abschiebungen als Anerkennung der staatlichen Souveränität der DDR interpretiert werden könnten. Deshalb wurden die abgelehnten Bewerber:innen ‚toleriert‘: Sie konnten weder abgeschoben werden, noch konnten sie einen Wohnsitz anmelden oder arbeiten. So wurde das Tolerieren zu einem sozialen Problem, besonders als die DDR 1952 die innerdeutsche Grenze dicht machte. Die Ausgewanderten steckten nun in der ‚Inselstadt‘ Westberlin fest.
Im Mai 1953 urteilte das Bundesverfassungsgericht, die BRD müsse alle Bürger:innen der DDR akzeptieren – ausgenommen kommunistische Funktionäre, Kriminelle und Individuen, die sich dem Kindesunterhalt entziehen wollten. Nach diesem Urteil wurden zwar weiterhin nur 25 Prozent der Sowjetzonenflüchtlinge als ‚echte Flüchtlinge‘ eingestuft, doch es wurden nur noch weniger als zehn Prozent der Asylanträge abgewiesen. Die Mehrheit wurde ‚diskret‘ anerkannt. Obwohl sie eher aus wirtschaftlichen als aus politischen Gründen kamen, erhielten sie eine Aufenthaltsberechtigung. Volker Ackermann argumentiert, diese ‚Farce’ eines Verfahrens sei beibehalten worden, um „die Fiktion vom ‚echten‘ politischen Flüchtling aufrecht erhalten“ zu können (Ackermann 1995: 111). Der Umgang der BRD mit den Sowjetzonenflüchtlingen zeigt, wie zentral der ‚politische Flüchtling‘ für die Identitätsbildung in Westdeutschland war; gleichzeitig bereitete er den Weg für den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings.