Ein Projekt der interdisziplinären
Forschungsgruppe
"Die wissenschaftliche Produktion
von Wissen über Migration"
Spätestens seit 2015 wird in Politik und Medien, Wissenschaft und Gesellschaft intensiv über die Gründe und Folgen grenzüberschreitender Mobilität diskutiert. Dabei scheint oft allzu selbstverständlich, dass und wie sich unterschiedliche Mobilitäten und mobile Menschen voneinander unterscheiden: etwa die Flucht von der Geschäftsreise oder der Gastarbeiter von der exilierten Wissenschaftlerin. Doch die Begriffe und Kategorien, mit denen Menschen und ihre Mobilitäten bezeichnet, geordnet, zähl- und regierbar gemacht werden, sind keineswegs natürlich und gegeben. Sie sind umstritten, historisch geworden und gemacht.
Hier setzt das Inventar der Migrationsbegriffe an: Es ist ein interdisziplinäres Nachschlagewerk, das sich mit zentralen Begriffen der aktuellen und historischen Debatten über Migration beschäftigt. Es lenkt den Blick darauf, wie migrationsbezogene Begriffe hergestellt worden sind, wie sie zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zirkulieren und wie sich ihre Bedeutungen dabei ändern. Zentrale Migrationsbegriffe werden darin nicht eindeutig definiert. Die Autor:innen arbeiten vielmehr ihren unterschiedlichen und umstrittenen Gebrauch heraus, sie verweisen auf das historische Gewordensein der Begriffe und legen ihre politischen Implikationen offen. Denn, so unsere Überlegung, im veränderten Gebrauch und in der Verbreitung neuer Begriffe – wie der Rede von 'Bleibeperspektive' oder von 'Wirtschaftsflüchtlingen' – verdichten sich übergreifende gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse. Gleiches gilt für Konflikte, die sich am Gebrauch bestimmter Begriffe entzünden, und die in der Verbreitung alternativer Sprechweisen münden können. Zudem erlaubt die Beschäftigung mit der Frage, wo Begriffe herkommen – von wo aus sie in die öffentliche Diskussion oder in Verwaltungsprozesse gelangen – einen Einblick in das Wechselverhältnis von Politik, Medien und Wissenschaft.
Die Auswahl der Begriffe orientiert sich an ihrer Diskursmächtigkeit, an ihrer Praxisrelevanz und daran, dass sie aus Sicht der Migrationsforschung eine kritische Problematisierung in besonderer Weise erfordern. Das können Begriffe sein, an denen sich bereits zahlreiche Kontroversen entzündet haben, von 'Integration' bis 'Rasse'. Es können aber auch solche sein, die vermeintlich eindeutig erscheinen und deswegen in der Regel zu wenig kritisch hinterfragt werden, wie 'Diversität' oder „(freiwillige) Rückkehr“. Vollständig oder repräsentativ ist eine solche Auswahl nicht. Die ausgewählten Begriffe des Inventars verbindet aber, dass sich an ihnen zentrale Konfliktlinien, einflussreiche Formen des Nachdenkens über Nation und Gesellschaft und bedeutsame historische Entwicklungen besonders gut aufzeigen lassen. Das Inventar gibt damit einen Einblick in gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse und hilft die Konflikte zu verstehen, die sich am Sprechen über Migration und Gesellschaft immer wieder entzünden – auch, um seine Leser:innen zu motivieren, sich informiert und reflektierend in Diskussionen über Migration einzumischen.
Das Inventar der Migrationsbegriffe ist ein Projekt des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Entwickelt wurde es zwischen 2019 und 2021 in der ersten Förderphase der am IMIS angesiedelten und vom Niedersächsischen Vorab der VolkswagenStiftung finanzierten Nachwuchsgruppe „Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration“, die einen zentralen Beitrag zur Weiterentwicklung der reflexiven Migrationsforschung leisten möchte.